Mittwoch, 3. Dezember 2008
Jeder fünfte Brustkrebs heilt von selbst
22 Prozent aller Fälle von Brustkrebs, die in den Mammographie-Programmen entdeckt und dann über Chirurgie, Bestrahlung oder Chemotherapie behandelt werden, wären von selbst wieder verschwunden. So lautet das Ergebnis einer spektakulären Studie aus Norwegen.

Mammographie

Überall in Europa war die Einführung von organisierten Früherkennungsuntersuchungen mittels Mammographie von einem enormen Anstieg der Brustkrebs-Rate begleitet. An sich eine logische Folge, die auch erwartet wurde. Denn, so das Dogma der Krebstherapie, "früh entdeckte Tumoren sind leichter heilbar". Später müssten diese Krebsfälle dann allerdings - weil geheilt - den Frauen erspart bleiben.
Ob dieser logisch klingende Schluss auch in der Realität hält, ist seit vielen Jahren heftig umstritten. Speziell Peter Goetzsche, der Direktor des Nordischen Cochrane-Zentrums in Kopenhagen ist hier vermehrt als Häretiker aufgetreten und hat allzu optimistische Annahmen kräftig erschüttert. Besonders gegen den Strich gehen ihm die Werbemaßnahmen für die offiziellen Screening Kampagnen, die mit objektiver Information über Nutzen und Risiken wenig zu tun haben.
Berühmt wurden die Kernsätze seiner 2006 publizierten Cochrane Review zu den Folgen des organisierten Mammographie-Screenings:
This means that for every 2000 women invited for screening throughout 10 years, one will have her life prolonged. In addition, 10 healthy women, who would not have been diagnosed if there had not been screening, will be diagnosed as breast cancer patients and will be treated unnecessarily. It is thus not clear whether screening does more good than harm. Women invited to screening should be fully informed of both benefits and harms.
Per-Henrik Zahl hat mit seinem Kollegen Jan Maehlen vom Norwegischen Institut für Public Health in Oslo nun eine weitere Facette in die Diskussion eingebracht. Nämlich die Frage, wie sich Brustkrebs verhält, wenn er gar nicht behandelt würde.

Dazu gingen die beiden recht raffiniert vor. Sie verglichen eine Kohorte von rund 120.000 Frauen im Alter zwischen 50 und 64 Jahren, die ab 1996 am ersten organisierten norwegischen Mammographie-Screening teilnahmen mit einer Kontrollgruppe von Frauen, die in den Jahren davor noch ohne Screening auskommen mussten. Die Altersgruppe wurde so gewählt, dass die Frauen der Kontrollgruppe im Jahr 1996, wenn die erste Gruppe gerade mit dem Screening begann ihre letzte Untersuchung absolvierten.
Damit hatte also auch die Kontrollgruppe am Ende der Untersuchungsperiode einmal ein Bruströntgen.
Die beiden Gruppen unterschieden sich hinsichtlich der Häufigkeit von invasivem Brustkrebs dramatisch:
In der Screening-Gruppe wurde bei 660 (pro 100.000) Frauen die Diagnose gestellt, in der Kontrollgruppe ohne Früherkennungsprogramm waren es nur 384 Krebsfälle.
Zwei Jahre vergingen und "der nicht entdeckte Krebs in der Kontrollgruppe hatte die Chance klinisch evident zu werden", schreiben die Autoren. Tatsächlich verkleinerte sich die Differenz zwischen den beiden Gruppen. Mit 1268 vs. 810 Fällen blieb dennoch die Krebsrate in der Screening Gruppe um 57 Prozent höher.
Nach sechs Jahren schließlich erhielten auch die Frauen in der Kontroll-Gruppe ihre erste Einladung zum Mammographie-Termin. Für die Frauen in der Screening-Gruppe war dies bereits der dritte Termin. Und nun wurden auch in der Kontrollgruppe viele Krebsfälle neu diagnostiziert. Dennoch blieb noch immer ein Unterschied von 22 Prozent aufrecht (2580 vs. 2152 Fälle).
Dieser Unterschied blieb auch nach weiteren zwei Jahren bei einem zusätzlichen Mammographie-Termin in beiden Gruppen konstant.

Was passierte also mit diesen 22 Prozent an Krebsfällen, die spurlos verschwanden? Das ist die Kernfrage, die sich aus dieser in der aktuellen Ausgabe der "Archives of Internal Medicine" publizierten Forschungsarbeit ergibt.
Der kalifornische Public Health Experte Robert M. Kaplan und der Ulmer Gesundheitsökonom Franz Porzsolt warnen in ihrem Kommentar, die Ergebnisse der Norweger auf die leichte Schulter zu nehmen. "Hier könnte sich eine Erklärung für Phänomene finden, die Wissenschaftler schon seit langem beunruhigen." Randomisierte klinische Studien bestätigen beispielsweise nur sehr selten die propagierten Vorteile des Screenings. Den Effekt über eine große gut gemachte Arbeit zu objektivieren, sei, so die beiden, "zwar wissenschaftlich notwendig, ethisch aber kaum durchsetzbar", zumal sich "ethische Bedenken häufig auf vorgefassten Meinungen basieren, aber nur selten auf Evidenz."

Die Studienautoren betonen, dass sich aus ihrer Arbeit keine Schlüsse ableiten lassen, ob Mammographie die Krebssterblichkeit reduziert. "Unsere Ergebnisse bringen aber neue Einsichten auf das wichtigste mit Mammographie verbundenen Schadenspotenzial, nämlich die Entdeckung und Behandlung von Krebsfällen, die sich von selbst zurückgebildet hätten."

Es ist dies nicht die erste Arbeit, mit der Per-Henrik Zahl und sein Team den Glauben an die heilsame Kraft der Früherkennung erschüttern. Die Medizinstatistiker publizierten bereits 2004 eine Studie, in der sie zeigen, wie sich die Einführung der Reihenuntersuchung in Norwegen auf die Zahl der Brustkrebserkrankungen ausgewirkt hat. Norwegen eignet sich sehr gut für einen Vergleich, weil das organisierte Screening im Jahr 1996 zunächst nur in fünf Bundesländern eingeführt wurde, die zusammen 40 Prozent der norwegischen Bevölkerung ausmachen. Der Unterschied war beträchtlich. Denn in den fünf Screeningländern stieg die Häufigkeit von Brustkrebs um 54 Prozent an.
Dass eine Früherkennungsmaßnahme die Zahl der entdeckten Krebsfälle erhöht, liegt in der Natur der Sache. Dies sollte allerdings dadurch kompensiert werden, dass dann in den späteren Jahren deutlich weniger Fälle von Brustkrebs gefunden werden. Schließlich, so die Grundthese der Früherkennung, sind diese Fälle ja schon zuvor, im leichter heilbaren Frühstadium entdeckt worden und müssen deshalb später fehlen. Soweit die Theorie, die sich in diesem Fall aber als reichlich grau entpuppte. Denn Per-Henrik Zahl fand keinen Rückgang der Krebszahlen im höheren Alter, der den enormen Anstieg von 54 Prozent auch nur annähernd ausgeglichen hätte.
Um zu sehen, ob es sich bei diesem Ergebnis um eine norwegische Besonderheit handelte, besorgten sich die Wissenschaftler auch noch die Zahlen aus Schweden, wo das Screening bereits zehn Jahre früher, zur Mitte der Achtzigerjahre, eingeführt wurde. Drei Viertel aller Frauen in der Zielgruppe der 50- bis 69-Jährigen nahmen dort das Angebot an. Zuvor lag in Schweden der jährliche Anstieg der Brustkrebsrate bei 0,8 Prozent. Mit der Einführung des Screenings ergab sich auch beim skandinavischen Nachbar ein plötzlicher radikaler Anstieg der Krebsrate um 45 Prozent. Auch hier fanden die Wissenschaftler keinen nachfolgenden Rückgang in der Gruppe der 70- bis 74-jährigen Frauen. Erst in der Gruppe der 75- bis 80-Jährigen ergab sich eine bescheidene Verringerung der Krebshäufigkeit um 12 Prozent. Damit konnte der extreme Anstieg in den jüngeren Jahren aber nicht im Mindesten ausgeglichen werden.
Das Resümee der Autoren fällt denn auch reichlich düster aus: „Ohne Screening wäre ein Drittel aller Fälle von invasivem Brustkrebs zu Lebzeiten der Frauen nie entdeckt worden." Jede dritte Brustkrebspatientin in Norwegen und Schweden hätte sich ihr Schicksal also erspart, wenn sie den Aufforderungen der Behörden zur Mammografie nicht gefolgt wäre.
Und das, schreiben die Autoren, bezieht sich nur auf die Entdeckung von „echtem" Krebs. Die Röntgenuntersuchungen finden nämlich besonders leicht sogenannte Krebsvorstufen, die sich möglicherweise irgendwann einmal zu invasivem Krebs weiterentwickeln. Würde das auch noch berücksichtigt, läge die Steigerungsrate sogar bei 80 Prozent.

Im Vergleich zu diesen Ergebnissen, sind die aktuellen Resultate ja nachgerade beruhigend. Zahl und Co. geben allerdings zu bedenken, dass die ermittelten 22 Prozent „verschwundener" Brustkrebsfälle den Effekt auch unterschätzen könnte. Dann nämlich, wenn der Einfluss des so genannten „wilden Screening" in der Auswertung berücksichtigt würde. Gaben doch etwa die Hälfte der Frauen aus der Kontrollgruppe an, dass sie zuvor bereits mindestens einmal eine Mammographie - ganz ohne offizielles Programm - durchführen ließen.

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„Grippe-Experten beraten die Bevölkerung wie Staubsaugervertreter"
Die Grippe-Impfungen wirken schlecht. Bei Millionen von Tamiflu-Packungen, die 2005, am Höhepunkt der Vogelgrippe-Hysterie angeschafft wurden, läuft demnächst das Haltbarkeitsdatum ab. Zum Glück ist weit und breit keine Pandemie im Anmarsch. Der Cochrane-Impfexperte Tom Jefferson hält die ganze Influenza-Vorsorge für einen schlechten Aprilscherz.

Kürzlich ist im österr. Nachrichtenmagazin profil ein Artikel von mir zur Influenza-Vorsorge erschienen. Ein ähnlicher Artikel auch zuvor in der Beilage "Gesund" der Berliner Morgenpost
tjefferson.jpg Hier bringe ich die ungekürzte Fassung des Interviews, das ich mit dem britischen Epidemiologen Tom Jefferson geführt habe. Er hat als Koordinator der Cochrane-Vaccine-Field die gesamte Evidenz zur Grippe-Impfung aufgearbeitet. Das größte Wirksamkeitsloch fand sich bei Senioren, sowie bei Babys und Kleinkindern. Auf seiner persönlichen Homepage hat Jefferson eine "Pandemie-Clock" eingerichtet, die in der Art eines Countdowns die Tage bis zum Ausbruch der katastrophalen Influenza-Pandemie herunter zählt. Auf "Null" springt sie jährlich am 1. April.


Ehgartner: In den letzten beiden Jahren haben mehrere aufwendige Studien Ihre Analysen zur schlechten Wirksamkeit der Grippe-Impfung bestätigt. Hat sich damit ihre Sichtweise international durchgesetzt?

Jefferson: Nein, denn zu den Entscheidungsträgern ist das gar nicht durchgedrungen. Diese haben ja auch keinerlei Notiz von unseren Übersichtsarbeiten im Journal Lancet genommen. Darf ich noch mal in Erinnerung rufen, dass wir dafür nicht eine oder zwei oder drei Studien geprüft haben, sondern wir haben alle verfügbaren Daten der letzten 50 Jahre zur Wirksamkeit und Sicherheit der Grippe-Impfung in unsere Analysen aufgenommen.

Ehgartner: Wie war denn die Qualität dieser Studien?

Jefferson: Großteils sehr schlecht - die Laufzeit war meist viel zu kurz, auf Nebenwirkungen wurde kaum geachtet. Das Hauptproblem lag allerdings in der Interpretation der Daten. Meist standen diese nämlich in direktem Gegensatz zu den Schlussfolgerungen der Autoren. Die Grippe-Impfung ist scheinbar zu einer Art Gospel geworden, wo vor allem der Glaube zählt.

Ehgartner: Liegt das daran, dass die meisten Studien von den Herstellern selbst finanziert werden?

Jefferson: Zum einen natürlich. Aber es wäre zu einfach, die Schuld allein der Pharmaindustrie zu geben. Sie verkaufen Impfungen, weil das ihr Geschäft ist. Das wirkliche Problem sind - wie ich sie nenne - die schlechten Lehrer: so genannte Impfexperten, die die Bevölkerung beraten wie Staubsaugervertreter, die ihre Ware anbringen wollen.

Ehgartner: Was wäre denn das Problem, wenn die Grippe-Impfung weniger gut wirkt als andere Impfungen? Das ist doch immerhin besser als gar kein Schutz.

Jefferson: Weltweit werden viele Milliarden in die Influenza-Vorsorge investiert. Das ist eine Menge Geld, das die Politiker auf Basis guter wissenschaftlicher Evidenz sinnvoll einsetzen sollten. Zuerst muss man prüfen, ob der Impfstoff wirkt, als nächstes ob er sicher ist. Was wir derzeit haben ist die perfekte Ungewissheit. Wir wissen nicht, ob Impfen besser oder gleich oder sogar schlechter ist, als gar nichts zu tun. Impfungen sind pharmazeutische Interventionen, die - wie alle Arzneimittel - auch Schaden anrichten können. Wir brauchen endlich große, unabhängig finanzierte Studien über mehrere Grippe-Saisonen, in der die Impfstoffe gegen Placebo getestet werden. Nur so können wir Sicherheit gewinnen. Und die Kosten wären verschwindend im Vergleich zu dem, was wir derzeit - völlig ins Blaue hinein - ausgeben.

Ehgartner: Mediziner und Behördenvertreter meinen, eine derartige Studie wäre unethisch, weil jene, die in die Placebogruppe gelost würden, keinen Schutz vor Grippe haben.

Jefferson: Derzeit wird Gesundheitspolitik betrieben, ohne dass es dafür irgend eine wissenschaftliche Basis gibt. Das nenne ich unethisch.
Nehmen sie beispielsweise die Empfehlung des Robert-Koch-Institut zur Frage, ob schwangere Frauen Grippe geimpft werden dürfen. Darin heißt es: "Zur Influenza-Impfung in der Schwangerschaft wird seitens der pharmazeutischen Unternehmen darauf verwiesen, dass gezielte Studien zur Sicherheit der Impfung bei Schwangeren fehlen, Schäden aber nicht bekannt sind, die Impfung ist daher nicht kontraindiziert". Man weiß also nichts, empfiehlt die Impfung aber trotzdem. Leute, die solche Richtlinien herausgeben, sollten schnellstens von ihren Posten entfernt werden.


Tom Jefferson, 54, ist Koordinator der Cochrane-Vaccine-Field, und hat in den letzten drei Jahren eine Serie von Metaanalysen zur Influenza Vorsorge bzw Therapie mit Neuraminidase Inhibitoren (Tamiflu, Relenza) veröffentlicht. Hier findet sich eine Literatur-Übersicht. Hier eine deutsche Zusammenfassung der Analyse Ergebnisse zur antiviralen Therapie.
Tom Jefferson lebt mit seiner Familie in Rom.

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