Donnerstag, 22. Mai 2008
Alte Freunde - Neue Feinde
In der aktuellen Ausgabe des österr. Nachrichtenmagazins profil habe ich die Coverstory zur "neuen Sicht des Immunsystems" geschrieben.

Darin beschreibe ich einige wichtige Thesen meines aktuellen Buches "Lob der Krankheit"
http://www.ehgartners.info

Hier ist ein link zum Haupttext der Story:

http://www.news.at/articles/0820/560/206050.shtml

Hier nun eine etwas ausführlichere Version des Interviews mit Prof. Graham Rook:

Graham Rook, 62, ist Professor am Zentrum für Infektionskrankheiten und Internationale Gesundheit am Windeyer Institut für Medizinwissenschaften der University College Medical School in London. Er prägte den Ausdruck „Old Friends-Hypothesis“ als Weiterentwicklung der Hygiene-Hypothese.

Graham Rook, 62, ist Professor am Zentrum für Infektionskrankheiten und Internationale Gesundheit am Windeyer Institut für Medizinwissenschaften der University College Medical School in London. Er prägte den Ausdruck „Old Friends-Hypothesis“ als Weiterentwicklung der Hygiene-Hypothese.


„Wir haben wenig Alternativen“

Der Londoner Immunologe Graham Rook im Gespräch mit Bert Ehgartner zur Frage, warum sich das Immunsystem nicht gegen Parasiten wehrt, sondern lieber mit ihnen Freundschaft schließt


Ehgartner: Sie haben für die Hygiene-Hypothese den Namen Old-Friends-Hypothese kreiiert. Warum?

Rook: Es ist ein viel besserer Name, weil es eigentlich nichts mit Hygiene zu tun hat. Während der letzten 40.000 Jahre haben wir uns technologisch enorm entwickelt. Wenn uns kalt wurde, erfanden wir den Pelzmantel und unzählige andere Dinge. Wir haben stets auf einen Mangel reagiert. Doch wenn unser Immunsystem Bedürfnisse hatte, merkten wir das nicht. Die Old-Friends Hyothese sagt nun, dass spezielle Würmer und Bakterien, die immer da waren in schlammigem Trinkwasser oder in der Nahrung und mit denen jedes Lebewesen infiziert war, schlussendlich für unser Immunsystem auch eine eminent wichtige physiologische Rolle übernommen haben.

Ehgartner: Inwiefern sind Würmer für uns notwendig?

Rook: Das faszinierendste Beispiel dafür lieferte kürzlich eine argentinische Forschergruppe in einer Studie mit Mulitple-Sklerose Patienten. Sie gaben einem Teil von ihnen Würmer und daraufhin hatte diese im Lauf der fünfjährigen Beobachtungsphase kaum noch Symptome. Die Würmer hatten ein Signal an das Immunsystem übermittelt, das massenhaft regulierende Lymphozyten aktivierte. Und damit wurde der autoaggressive Mechanismus der zu MS führt abgeschwächt.

Ehgartner: Warum reagiert das Immunsystem nicht gegen die Würmer? Immerhin sind sie doch Parasiten und können Menschen schädigen.

Rook: Das Immunsystem reagiert ja. Aber nur in der Anfangsphase. Wenn sie einmal etabliert sind, ist der Aufwand jedoch zu groß, sie wieder loszuwerden. Da würde eine Bekämpfung der Würmer mehr Schaden anrichten, als die Würmer selber. Sie kennen sicher die Horror-Bilder von Menschen, die an Elephantiasis leiden, an grauenhaften Wucherungen. Wir wissen mittlerweile, dass die Ursache darin liegt, dass es hier nicht gelingt, den Immunresponse gegen die Wurminfektion abzuschalten. Das Immunsystem wird mit den Würmern nicht fertig. Ein Kampf verursacht viel mehr Schaden, deshalb schlägt es den Weg der Symbiose ein.

Ehgartner: Sind es nun die Würmer selbst, die das Immunsystem besänftigen und seine Aktivität herunter regulieren? Quasi als eine Art evolutionäre Strategie, um nicht angegriffen zu werden.

Rook: Ja sie machen das. Ein erfolgreicher Parasit wird seinen Wirt immer am Leben halten. Den Menschen zu töten ist das letzte, was ein Parasit im Sinn hat. Und dem Immunsystem erscheint es als legitim, lieber die Produktion von Wurmeiern zuzulassen, wenn die Alternative Elephantiasis lautet. Würmer aktivieren Regulationsmechanismen, die Fehlreaktionen, wie sie bei Allergien und Autoimmunkrankheiten bestehen, beseitigen oder abschwächen. Und das aufregende dabei ist, dass wir in den klinischen Studien sehen, dass das tatsächlich funktioniert. Wenn ich Multiple Sklerose hätte, würde ich in die Slums von Argentinien übersiedeln, um mir die nötige Dosis an Würmern zu besorgen. Die wissenschaftlichen Versuche am Menschen werden aber auch immer zahlreicher. Etwa mit Hakenwürmern von denen keinerlei Gefahr ausgeht.

Ehgartner: In der Nähe von Hamburg gibt es eine erste Firma in Europa, die sich darauf spezialisiert hat, Würmer zu züchten.

Rook: Ja, sie kooperieren mit US-amerikansichen Forschern, die Therapien auf Basis von Schweine-Peitschenwürmern anbieten. Natürlich kommt hier auch heftige Kritik, ob wir völlig verrückt wären, Menschen mit Würmern zu behandeln. Aber ich halte das gar nicht für verrückt. Denn wir haben wenig Alternativen.

Ehgartner: Weiß man, welche Mechanismen die Würmer hier konkret aktivieren?

Rook:Im Zentrum stehen die dentritischen Zellen. Sie sind es, die den Lymphozyten vermitteln, ob es sich bei Fremdkörpern um Freund oder Feind handelt. Sie benutzen dafür ein Erkennungssytem, das hunderte von Rezeptoren abtestet und daraufhin die Entscheidung fällt, welche Signale weitergegeben werden. Hunderte von Molekülen des Wurms werden also in dieser Entscheidungsfindung verarbeitet. Und das bestimmt den Regulationsprozess. Das ist viel zu kompliziert, um auf einige wenige Moleküle zu reduzieren. Wenn wir das nachbauen wollten, müssten wir gleich einen künstlichen Wurm erschaffen. Warum also nicht gleich den echten nehmen, den es ohnehin gibt.

Ehgartner: Welche Vorteile hat denn das Immunsystem vom Kontakt mit Bakterien. Warum wurden aus Scharotzern und potenziellen Krankheitserregern im Lauf der Evolution alte Freunde?

Rook: Alles was im Lauf der Evolution lange genug anwesend ist, wird in das Genom eingebaut. Nehmen sie beispielsweise Bakterien, die an siedend heißen giftigen Quellen am Boden des Pazifik leben. Wenn sie davon eine Probe an einen Bioinformatik-Experten geben, um dessen Gene zu analysieren, so wird er nach wochenlangen Tests zu dem Resultat kommen, dass dieser Organismus Enzyme hat, die hohen Temperaturen standhhalten und dass er Schwefel einatmet, so wie andere Lebewesen Sauerstoff. Die Umwelt, in der ein Lebenwesen existiert, wird in das Genom eingebaut. Oder um ein noch krasseres Beispiel zu geben: Als vor langer Zeit in unserer Atmosphäre Sauerstoff entstand wurden dadurch die meisten Lebewesen getötet. Manchen gelang es in Sauerstoff-freie Umgebung zu flüchten und andere passten sich an. Und was geschah: Wir wurden vom Sauerstoff abhängig. Wir bauchen ihn, um zu leben. Wenn also etwas immer da ist, werden sich die Gene darauf einstellen und brauchen das in der Folge auch. Unser Immunsystem wurde dadurch überrascht, dass einige seiner alten Freunde plötzlich nicht mehr da waren.

Ehgartner: Wird der Kontakt zu Bakterien auch als Signal benützt, das naive Immunsystem des Ungeborenen in seiner sterilen Umgebung bei der Geburt umzustellen.

Rook: Es wurde oft darauf hingewiesen, dass es kein Zufall sein kann, dass der Geburtskanal so nahe am Anus liegt, wo das Baby sofort mit einem Schwall von Bakterien begrüßt wird. Bei Delphinen ist es etwa üblich, dass sie auf das neugeborene Baby koten. 90 Prozent aller unserer Zellen sind tatsächlich Bakterienzellen. Der Kontakt zu Bakterien war immer da. Bloß in den letzten 100 Jahren ging er – für unser Immunsystem völlig überraschend, schrittweise verloren.

Ehgartner: Was empfehlen sie denn den Familien, um dieses Manko aufzuholen? Die Kinder im Schweinestall spielen lassen?

Rook: Nein. Es geht um ein gesundes Mittelmaß. Wenn ein Kind draußen im Dreck wühlt und dann reinläuft, um sich mit den schmutzigen Fingern Essen zu nehmen, so tut es schon gut, das als Eltern etwas gelassener zu sehen. Zu wissen, dass das seiner Gesundheit eher nützt als schadet. Kontakt mit Dreck wäre nicht schlecht. Aber wie soll man das in unserer Gesellschaft umsetzen: Mit der täglichen Mist-Lieferung ins zwölfte Stockwerk? Das ist wenig praktikabel. Hier ist die Wissenschaft gefordert, Lösungen zu finden.

Ehgartner: Wie kann man diese Kenntnisse jetzt nützen für bessere Medikamente gegen Allergien oder Autoimmunkrankheiten?

Rook: Um diese komplizierten Erkennungsmuster zu kopieren wäre es besser man verwendet die originalen Moleküle, also die Bakterien oder die Würmer selbst.

Ehgartner: Nun weiß man ja, welche Signalstoffe hier produziert werden. Interleukin 10 beispielsweise oder TGF beta. Wären das nicht auch geeignete Wirkstoffe?

Rook: Nein. Denn man will diese Immunregulation ja nicht die ganze Zeit. Diese immunregulatorischen Zellen haben ja ihre ganz besondere Spezifität. Die sind ja nicht die ganze Zeit aktiv, sondern immer in Abhängigkeit zum Kontakt mit den Antigenen. Wenn man den puren Stoff nimmt, so würde man einen unverhältnismäßigen Effekt auslösen und bestimmte Mechanismen ständig unterdrücken. Man muss dem System erlauben, dann zu handeln, wenn es nötig ist. Und das weiß das System selbst am besten. Wenn sie hingege einen isolierten Wirkstoffn von außen zuführen, dann wissen sie nie, wann es Zeit ist, den Impuls wieder abzuschalten.

Ehgartner: Gibt es denn Beweise für den Einfluss der dentritischen Zellen auf die Regulation des Immunsystems?

Rook: Ja, es gibt Menschen mit einem genetischen Defekt, die einen bestimmten Transkriptionsfaktor mit Namen FOX-D3 nicht bilden können, der für die Bildung regulatorischer T-Zellen nötig ist. Und bei diesen Menschen finden sie sowohl Allergien als auch alle Formen von Autoimmunkrankheiten.

Ehgartner: Was meinen Sie denn, wie sehr die Hygiene-Hypothese mittlerweile im Mainstream der Wissenschaft etabliert ist?

Rook: Das ist für mich recht schwierig zu beantworten, weil alle Menschen die ich kenne, die Stärke der Argumente kennen, die für unsere Sicht sprechen. Aber nächsten Samstag fliege ich nach Honolulu zur Weltkonferenz der Kinderärzte. Und ich halte da einen einstündigen Vortrag im größten Kongress-Saal mit mehreren tausend Plätzen. Also dürften wir doch schon im Zentrum der Wissenschaft angekommen sein.

Ehgartner: Wie sehen Sie den Einfluss der Antibiotika-Überverschreibung auf das Immunsystem?

Rook: Sie haben einen enormen Effekt auf die Darmflora und es ist jedesmal eine Herausforderung, wieder eine gesunde Neubesiedelung zustande zu bringen. Wir haben in uns zehnmal so viele Bakterienzellen wie wir menschliche Zellen haben. Die Bakterienflora gilt genauso als Organ wie etwa die Nieren. Das ist Teil unseres Organismus.

Ehgartner: Es gibt schon eine Reihe von Nahrungsmitteln, wo gesunde Bakterien enthalten sind. Laktobazillen im Joghurt beispielsweise. Werden das die Arzneimittel der Zukunft?

Rook: Das Problem ist, dass es in der Nahrungsmittelindustrie kaum Regulationen gibt, obwohl Firmen wie Danone hier viel in die Forschung investieren. Aber wir haben gefunden, dass die meisten Laktobazillen, die hier verwendet werden, überhaupt keine Wirkung haben. Nicht alle Laktobazillen sind in der Lage, die regulatorischen Prozesse einzuleiten. Hier ist aber einiges unterwegs, um die geeignete Dosis und die geeigneten Stämme zu finden.

Ehgartner: Das Hauptproblem bei Allergien und Autoimmunkrankheiten ist, dass man langsam weiß, dass die Einflüsse in der Kindheit wesentlich sind. Doch gibt es auch Hoffnung für Erwachsene?

Rook: Wir wissen, dass es bei Kindern auf die ersten drei Jahre ankommt. Hier wird das System aufgebaut. Und hier sollten wir Fehler in vermeiden. Doch es gibt langsam auch Hoffnung für Erwachsene, wie die Studien mit den Würmern zeigen. Die Effekte sind aber jedenfalls größer in der Kindheit.

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